Bericht unserer jährlichen Veranstaltung mit Verleihung des Sozialen Menschenrechtspreises 2023 vom 24. Oktober im Rathaus Schöneberg unter der Schirmherrschaft des Bezirksbürgermeisters von Tempelhof-Schöneberg Jörn Oltmann

In diesem Jahr eröffnete der bekannte Schauspieler Rolf Becker die Jahresveranstaltung mit einer Rezitation von Heinrichs Heine Werk „Wintermärchen Caput VI“ und aus einem Ausschnitt aus seinem Testament, in der er vor allem auf die sozialen Missstände aufmerksam macht: „Sie ist schon seit langem gerichtet, verurteilt, diese alte Gesellschaft. Möge die Gerechtigkeit ihren Lauf nehmen! Möge sie zerbrochen werden, diese alte Welt, wo die Unschuld zugrunde ging, wo die Selbstsucht gedieh, wo der Menschen vom Menschen ausgebeutet wurde!”

Nach der herausragenden Darbietung übergab dieser das Wort an Eberhard Schultz, den Vorsitzenden der Stiftung. Er leitete seine Rede mit einer Begrüßung der Anwesenden und einem Dank an die Vorstands- und Kuratoriumsmitglieder, die Mitarbeiter:innen und Ehrenamtlichen ein. Zudem bekräftigte er an diesem besonderen Tag, der auch gleichzeitig der 78. Jahrestag der Unterzeichnung der UN-Charta ist, die Aktualität der Sozialen Menschenrechte. Angesichts der aktuellen Kriege sind und bleiben für Eberhard Schultz sowie der Stiftung die Durchsetzung der sozialen Menschenrechte ein wichtiger Bestandteil, um zu dem erforderlichen Frieden beitragen zu können. Im Fokus der Veranstaltung ist das „Soziale Menschenrecht auf Wohnen für Alle“, welches insbesondere infolge des Volksentscheids in Berlin kontinuierlich nicht an Wichtigkeit verliert.

Eberhard Schultz
Stiftungsvorsitzender

Er übergab das Wort an die Moderatorin Elisabeth Köglmeier, die nachfolgend das Publikum durch die Veranstaltung führte und im nächsten Schritt das Wort an Herrn Oltmann überreichte.

Elisabeth Köglmeier
Moderatorin und BQN Diskriminierungsbeauftragte

Unsere Veranstaltung fand in diesem Jahr zum ersten Mal unter der Schirmherrschaft des Bezirksbürgermeisters von Tempelhof-Schöneberg, Jörn Oltmann, statt. Er betonte, dass Stiftungsarbeit und Engagement zentrale Stützen in unserer Gesellschalt sind und erklärte zudem zur Stiftungsarbeit der Eberhard-Schultz-Stiftung: „Ihrer Arbeit setzen Sie sich besonders für die Anliegen sozial benachteiligter Menschen ein und fordern gleichberechtigte Teilhabe. Ihre Arbeit ist ein Baustein im großen sozialen Gefüge und bringt Licht und Hoffnung“.

Jörn Oltmann
Bezirksbürgermeister Tempelhof-Schöneberg

Außerdem fand in seiner Rede auch das Thema Wohnraum große Beachtung, in der der Bezirksbürgermeister hervorhob: „Das Thema soziales Wohnen betrifft uns alle. Niemand kann mehr sehenden Auges durch unsere Stadt laufen, ohne zu erkennen, dass wir in diesem Bereich ein riesengroßes Problem haben […] Steigende Preise fürs Wohnen, für Lebensmittel und für Heizungs- und Energiekosten machen Wohnen zunehmend zu einem Luxusgut. Und dies gilt nicht nur in der Metropole Berlin. Viele Menschen müssen den innerstädtischen Raum verlassen, um sich Wohnen überhaupt noch leisten zu können. Es ist wichtig über das Thema Wohnen als soziales Recht von Menschen zu reden.“

Gülsah Stapel
Stiftung Berliner Mauer,
Kuratorin Outreach, Vorstandsmitglied Ethecon

Im Anschluss folgte die Grußbotschaft der Kuratoriumsvorsitzenden Frau Prof. Dr. Rita Süssmuth, die leider nicht persönlich teilnehmen konnte, vorgetragen von Gülsah Stapel.

Rita Süssmuth
Kuratoriumsvorsitzende

Darin hieß es: „Der zunehmenden sozialen Spaltung kann und muss mit den sozialen Menschenrechten als Fundament und Richtschnur für demokratisches an den Menschenrechten orientiertes Handeln entgegengewirkt werden. Dazu ist die Bundesregierung völkerrechtlich verpflichtet. Auch die schwierige internationale Situation infolge des Ukraine-Krieges und Israel-Palästina Krieges entbindet sie nicht von dieser Pflicht. […] Hören und erleben wir doch täglich die berechtigten Sorgen von einer wachsenden Zahl von Menschen, die nicht mehr wissen, wie sie ihren Lebensunterhalt finanzieren sollen – nicht nur die schon früher Armen und Ausgegrenzten, sondern auch immer mehr Menschen aus der Mitte der Gesellschaft, die bisher solche Sorgen seit Jahrzehnten nicht mehr gekannt haben […] “

Nach diesen begrüßenden Worten leitete der Stadtsoziologe Dr. Andrej Holm mit einem wichtigen Input-Referat in das Thema der politischen und marktwirtschaftlichen Wohnsituation und dem damit verbundenen sozialen Menschenrecht auf Wohnen ein. Dabei stellte er zunächst fest: Um angemessenes, bedarfsgerechtes und leistbares Wohnen gewährleisten zu können, darf nicht mehr als 30% des verfügbaren Einkommens für eine Wohnung ausgegeben werden. Die derzeitige Realität spiegelt jedoch etwas ganz anderes wider. Die Gründe dafür sind vielfältig. Das Grundproblem der Wohnungsversorgung ist immer noch, dass der Wohnungsmarkt menschenwürdige Wohnungen nur zu Preisen bereitstellt, die die Zahlungsfähigkeit eines Teils der Haushalte übersteigt.”[1]

Dr. Andrej Holm
Sozialwissenschaftler

Die Zahl der Sozialwohnungen ist durch Privatisierung und den Ausstiegen von Förderprogrammen seitens Deutschlands um mehr als die Hälfte auf weniger als 400.000 Wohnungen gesunken. Mit der Zeit ist der Bestand von bewohnbaren preiswerten Wohnungen stetig gesunken und gegenwärtig wurden ca. zweidrittel aller Wohnungen privatisiert. Das eröffnet den Vermieter:innen wiederrum die Möglichkeit, die Mietpreise anzuheben auf den fast doppelten Preis der aktuellen Bestandsmiete in Berlin von ca. 7€/m². Dadurch bleibt vielen Mieter:innen die Flexibiliät bzw. Anpassung durch beispielsweise veränderte Lebensbedingungen verwehrt, da neue Wohnungsverträge stets mehr kosten als die alten. Diese Faktoren münden zusammen mit der erhöhten Nachfrage nach Wohnungen besonders in Großstädten zu Wohnungsnot. Zusätzlich bilden sich Luxuswohnungen durch Entstehung von Neubauten und hohen Markt-Mieten (13€/m²). So müssen nach Andrej Holm [s]oziale Belange der Wohnungsversorgung […] deshalb immer gegen private Profitinteressen durchgesetzt werden.” Dieses Nicht-Handeln führt zu Verdrängung aus günstigen Wohnungen durch Abriss, Modernisierung, Eigenbedarfskündigungen und aus kompletten Nachbarschaften für Menschen mit niedrigem Einkommen.

Möglichkeiten staatlichen Handelns, um den Problemen entgegenzuwirken, sind Regulierung (rechtliche Vorgaben, Gesetze, Gebote), Finanzierung (Steueranreize, Förderprogramme) und die Bereitstellung von staatlich regulierten Wohnungen.

Vorstandsmitglieder Azize Tank, Eberhard Schultz und André Nogossek
im Gespräch mit Elisabeth Köglmeier, Peter Schmidt vom Mieterprotest Kosmosviertel und der Koordinatorin Laura Hrynkiewicz

Im Anschluss an diese thematische Einführung bat Moderatorin Elisabeth Köglmeier den Vorstand der Eberhard-Schultz-Stiftung nach vorne und fragte die Vorstandsmitglieder über die Beweggründe zur Gründung der Stiftung sowie über die Projekte des vergangenen Jahres und die kommenden Aufgaben der Stiftung. Die Vorstandsmitglieder betonten, dass die sozialen Menschenrechte trotz völkerrechtlicher Verbindlichkeit Deutschlands nicht ausreichend rechtlich festgeschrieben sind, wie etwa im Bereich Bildung, wobei auch hier Deutschland im internationalen Vergleich weit hinten liegt. Zudem wurde in der Diskussionsrunde deutlich, dass die sozialen Menschenrechte in Politik und im Bundestag einerseits nicht viel Aufmerksamkeit finden und andererseits immer noch nicht so bekannt sind, wie die Vorstandsmitglieder es sich wünschten. Das spiegelt sich auch im alltäglichen Diskurs wider.

Die Arbeit der Stiftung ist also noch lange nicht abgeschlossen, um die sozialen Menschenrechte voranzubringen und ihre Umsetzung zu verwirklichen. Im Fokus stand auch insbesondere der Parallelbericht an den UN-Ausschuss für die Beseitigung der Rassendiskriminierung (ICERD), an dem die Stiftung derzeit gemeinsam mit Expert:innen und von Rassismus Betroffenen sowie deren Organisationen gearbeitet und fertiggestellt hat.

Nach einer weiteren Rezitation von Rolf Becker begann der Höhepunkt des Abends: Die Verleihung des Sozialen Menschenrechtspreises 2023.

Dieser Preis wurde von einer unabhängigen Jury aus den eingehenden Bewerbungen ausgewählt: in diesem Jahr wurde er an XENION – Projekt Wohnraum für Geflüchtete verliehen. Hierzu zitierte Gisela Romain in Ihrer Laudatio aus der Begründung der Jury:

Gisela Romain
Jury-Mitglied und Laudatorin

„[…] Wir durchleben eine Zeit multipler globaler Krisen, die sich wechselseitig verstärken und von denen ohnehin benachteiligte Gruppen in besonderem Maße betroffen sind. Klimakrise, Kriege und politische Verfolgung treiben immer mehr Menschen in die Flucht. Sofern sie die Möglichkeit haben, zu fliehen und ihnen unter Einsatz ihres Lebens die Flucht nach Deutschland gelingt, sind sie dann in Deutschland angekommen, von der nächsten Krise betroffen: der Wohnungskrise. Von Krieg, Verfolgung und Fluchterfahrungen traumatisierte Geflüchtete finden sich in beengten Gemeinschaftsunterkünften wieder, sind rassistischen Anfeindungen ausgesetzt und haben auf dem ohnehin umkämpften Wohnungsmarkt so gut wie keine Chance auf angemessenen Wohnraum. Hier setzt das Projekt an, welches den diesjährigen Preis für soziale Menschenrechte erhält: Das Projekt „Wohnraum für Geflüchtete“ von Xenion e.V […]”.

Damit wurde das bis zu diesem Moment gehütete Geheimnis gelüftet und die Preisträger:innen öffentlich bekannt gemacht. “XENION – Projekt Wohnraum für Geflüchtete” erhielt neben einer Urkunde und dem Pokal auch einen symbolischen Scheck mit dem Preisgeld, das in diesem Jahr mit 2000€ dotiert war.

Bei den Preisträgern 2023 handelt es sich um einen Verein, der besonders schutzbedürftige Geflüchtete bei der Suche nach und dem Erhalt von angemessenem Wohnraum unterstützt.

Preisverleihung an XENION – Projekt Wohnraum für Geflüchtete (Bea Fünfrocken)

Bea Fünfrocken betonte: „[…] Wieso also das Thema Wohnen? […] [D]er überwiegende Teil unserer Klientinnen und Klienten [befindet sich] in langjährigen Asylverfahren […] und [ist] damit vom Zugang zu Sozialwohnungen ausgeschlossen […]. 2014/2015 wuchs die Verzweiflung der Menschen und sie baten XENION um Hilfe. Die langjährige Heimunterbringung zerrüttet die mühsam durch Therapie und Beratung erworbene Stabilität, produziert neue Ängste, erlaubt kein wirkliches Ankommen und verhindert ein gleichberechtigtes Aufwachsen der Kinder in Kita und Schule.

[…] Mit unserem Projekt haben wir bisher Geflüchtete in über 200 sichere und gute Wohnverhältnisse vermittelt. Das bedeutet immer Arbeit am Einzelfall, und da liegt noch sehr viel Arbeit vor uns. Aber darüber hinaus geht es noch um weit mehr:

Bea Fünfrocken
XENION

 Wir arbeiten für ein echtes Umdenken in der Stadtgesellschaft, für eine Sensibilisierung von Vermietern, Politikern und Genossenschaften mit dem Ziel, das soziale Recht auf Wohnen für Geflüchtete strukturell und praktisch durchzusetzen. Dabei sind wir mit sehr vielen bürokratischen und politischen Hürden konfrontiert, aber dennoch gibt uns eines Mut: Es gibt sie noch, die Solidarität in Berlin – viele solidarische Medien engagieren sich als Nachbarn, als Ehrenamtliche, als Genossenschaftsmitglieder, als Politiker, Förderer und Vermieter […]“

Gruppenbild mit Mitwirkenden des Abends

Abschließend konnten die Gäste Rolf Beckers letzte Rezitation eines weiteren Heinrich Heines Stückes nämlich das sogenannte Testament: Lutetia, Berichte über Politik, Kunst und Volksleben, Vorrede (im Original französisch), 6/233 (Übersetzung Tilly Bergner, aus Walther Victor, »Heine, ein Lesebuch für unsere Zeit«, Berlin und Weimar 1972, Seite 304) „genießen“.

Rolf Becker
Schauspieler und Rezitator

In seinem Schlusswort bedankte sich Eberhard Schultz noch einmal ganz besonders bei allen Mitwirkenden und lud zum anschließenden türkisch-mediterranen Imbiss ein, um den Abend mit den Gästen ausklingen lassen zu können.