Laudatio auf das Team des Mehrgenerationenhaus Wassertor e.V. zur Jahresveranstaltung und Verleihung des Sozialen Menschenrechtspreises 2020
Meine sehr verehrten Damen und Herren,
Liebe Freunde der Eberhard-Schultz-Stiftung,
es ist eine Ehre für mich und den Landesseniorenbeirat Berlin, der den Berliner Senat und das Abgeordnetenhaus in seniorenpolitisch wichtigen Fragen berät, heute die Laudatio für die Auszeichnung eines Teams von Menschenrechtsaktivisten mit dem „Sozialen Menschenrechtspreis“ 2020 zu halten. Die Durchsetzung der sozialen Menschenrechte in Deutschland und in der Welt ist eine zwingende Notwendigkeit. Die Qualität des Menschenrechtsschutzes in einem Staat misst sich gerade daran, ob die Rechte der Schwächsten geachtet und geschützt werden. Die berechenbare Folge der wachsenden Armut ist die parallele Zunahme von Verletzungen aller Menschenrechte.
Nach diesen einführenden Bemerkungen möchte ich sie bitten mich in einen Kiez in Berlin zu begleiten, in dem ein engagiertes Team tätig ist, das sich für die Durchsetzung der Menschenrechte einsetzt.
Wir befinden uns am Moritzplatz, Teil der Südlichen Friedrichstadt in einfacher Wohnlage. Seit 2016 sinkt die Zahl der Einwohner kontinuierlich. Der Anteil an Menschen mit Migrationshintergrund aus der Türkei, den Arabische Staaten und der EU beträgt 70%. Die soziale Lage der Einwohner*innen ist größtenteils prekär. Deutlich ist der signifikante Anstieg der „Altersarmut“. Der Anteil an Personen in Bedarfsgemeinschaften nach SGB II von 0 – 65 Jahren beträgt 43%. Belastend kommt die mangelhafte Versorgung an Grünflächen und Spielplätzen dazu. Von den ca. 15.000 Einwohner*innen sind viele jüngere und ältere. So beschreibt das Bezirksamt Friedrichshain-Kreuzberg den Planungsraum in einem Kurzprofil.
Ein Nachbarschaftstreff für überwiegend arme Senior*innen, Kinder und Familien ist hier überlebenswichtig. Engagierte Sozialarbeiter*innen und ehrenamtlich tätige Einwohner*innen entwickelten 10 Jahre zur Verbesserung der Situation kostenlose praktische Hilfsangebote, gaben Unterstützung im Alltag und standen beratend zur Seite. Das alles in mehreren Sprachen. Zum Wochenprogramm gehörten die offene Sozialberatung, eine tägliche Lebensmittelausgabe, sportliche Angebote aber auch Gärtnern, Basteln und Kaffeeklatsch.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, treten Sie ein in das Mehrgenerationenhaus Wassertor e.V. „Normalerweise sind hier Trubel und Heiterkeit. Hier ist immer Bewegung. Kinder die reinkommen und jubeln, ihre Schultaschen in die Ecke werfen. Senioren die Kaffee oder Tee trinken, sich mit den Nachbarn unterhalten.
„All diese Gespräche, diese schönen Momente sind plötzlich entfallen“, sagte Thomas Brockwitz, der stellvertretende Leiter. Im März hatte die Corona- Pandemie auch die Schließung des Hauses zur Folge. Aber Sille im Nachbarschaftstreff? Weit gefehlt. Kreativität war gefragt. Wie halten wir den Kontakt zu den Senior*innen aufrecht? Wie informieren wir sie über Neuigkeiten? Wie beraten wir sie in dringenden Fällen?
Eilig wurden 3000 Flyer in drei Sprachen mit der Information zur telefonischen Sozialberatung verteilt. Poster in den Hausfluren mit der Überschrift „Nachbarn helfen Nachbarn“, regten zum Einsatz als Einkaufshilfe an. Eine Information per Mail und mit Smartphon war kaum möglich. Über diese technischen Voraussetzungen verfügten die meisten Senior*innen nicht. Sie sind auch mit ihren Renten und mit der Grundsicherung im Alter nicht bezahlbar. Also gewann das Telefon an Bedeutung. Mit einem Telefonservice „Offenes Ohr“ war der Kontakt hergestellt. Vier Handys wurden angeschafft. So erfuhren die Senior*innen das sie nicht alleine sind. Die Botschaft hieß: „Niemand ist alleine. Es gibt Menschen, die für sie da sind.“ Drei Monate lang wurden täglich 56 isolierte Senior*innen in drei Sprachen angerufen. Nicola Meyer und das Team legten in dieser Zeit nur selten das Handy aus der Hand. Besonders die Älteren haben sich zum Schutz vor dem Virus in Selbstisolation begeben.
Keiner wusste zu diesem Zeitpunkt wie lange das nötig sein wird. Einsamkeit und Untätigkeit über eine so lange Zeit, führen mitunter zu gesundheitlichen Problemen. Da kamen die vorgefertigten Pakete mit Lebensmittel, die an die Türen abgelegt wurden, gerade recht. Sie ersparten den älteren Besuchern den Gang zur täglichen Lebensmittelausgabe. Bunte Postkarten von Kindern gemalt, erfreuten die Senior*innen in besonderem Maße. Nun sind wir im Monat 8 der Pandemie. Das Mehrgenerationenhaus hat unter Hygieneschutzbestimmungen geöffnet. Noch nicht absehbar sind aber die pandemischen Auswirkungen. Trotz COVID-19 wurden Spaziergänge zu zweit, kulturelle und sportliche Angebote, aber auch Tagesausflüge in Kreuzberg organisiert. Die Kooperation mit der Markthalle wurde ausgebaut. Mit der Kirche St. Jacobi und den Wassertormedien sind inklusive Workshop für digitale Grundlagen geplant, um Ältere längerfristig eine digitale Teilhabe zu ermöglichen.
Das alles funktioniert nur auf Grund der großen Flexibilität und Mehrarbeit der Kolleg*innen mit ehrenamtlicher Unterstützung. Armut und fehlende Sprachkenntnisse erschweren die digitale Teilhabe. In dieser Zeit wird nun auch die Handhabung und die Nutzung digitaler Technik lebensnotwendig. Das aber fällt schon Senior*innen auch ohne Sprachprobleme oder finanzielle Sorgen schwer. Dennoch bin ich der festen Auffassung, dass die Senior*innen selbstbestimmt ihr Leben gestalten wollen. Sie wollen selber entscheiden ob und wann sie welche Hilfe und Schutz benötigen und annehmen wollen. Alter sollte nicht automatisch unter Schutz gestellt werden. Die Älteren dieser Stadt stellen sich der digitalen Herausforderung.
Ich setze auf Aktivierung und Förderung des Engagement älterer Menschen. Wassertor e.V. praktiziert dies auf beeindruckende vorbildhafte Weise.
Ich gratuliere dem Team Wassertor e.V. zum diesjährigen Preis der Eberhard- Schultz-Stiftung für soziale Menschenrechte und Partizipation.
Eveline Lämmer, Mitglied der Jury