Wahlprüfsteine zum 19. Abgeordnetenhaus von Berlin 2023

Wahlprüfsteine 2023

Zur Wiederholungswahl zum 19. Abgeordnetenhaus von Berlin 2023 fordern wir Parteien auf, zu unseren Wahlprüfsteinen Stellung zu nehmen. Wir haben uns entsprechend den Schwerpunkten unserer Arbeit konzentriert auf: Umsetzung der sozialen Menschenrechte, das aktuell besonders wichtige soziale Menschenrecht auf Wohnen, sowie dem sozialen Menschenrecht auf Gesundheit und zum Themengebiet des strukturellen und institutionellen Rassismus. Wir werden ihre Antworten bzw. die Tatsache, ob sie geantwortet haben, auf unserer Website veröffentlichen.

Zur Bedeutung der sozialen Menschenrechte

Soziale Menschenrechte sind keine Almosen, die eine reiche Gesellschaft etwa an Arme und Bedürftige austeilt. Sie gelten für jeden Menschen unabhängig davon, ob sie wahrgenommen und eingeklagt werden (müssen) oder nicht. Wir brauchen nicht krank zu sein, um das Recht auf bestmögliche Gesundheitsversorgung zu verteidigen. So wie wir ja auch nicht wählen gehen müssen, um das allgemeine Wahlrecht anzuerkennen. Deswegen ist auch der Kampf um die Verwirklichung sozialer Menschenrechte nicht nur eine Angelegenheit gesellschaftlich benachteiligter Personen oder Gruppen, sondern eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe für alle. Die sozialen Menschenrechte können und sollen ein Fundament für eine wirklich sozial gerechte Gesellschaft werden.

A. Umsetzung der sozialen Menschenrechte

Parallel zum Pakt über bürgerliche und politische Rechte haben die Vereinten Nationen 1966 wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte im UN-Sozialpakt völkerrechtsverbindlich niedergeschrieben. Ihre Umsetzung wird vom UN-Sozialausschuss kontrolliert, beziehungsweise angemahnt.

Der UN-Sozialausschuss äußert seit Jahren Kritik an Deutschland zum Stand der Umsetzung der sozialen Menschenrechte. Seit 2008 eröffnet ein Zusatzprotokoll zum UN-Sozialpakt die Möglichkeit nach Ausschöpfung des nationalen Rechtswegs eine Individualbeschwerde beim UN-Sozialausschuss einzureichen. Das Zusatzprotokoll wurde insgesamt von 21 Staaten ratifiziert, darunter Frankreich, Italien und Spanien. Deutschland hat dieses im November 2022 nun ebenfalls ratifiziert; lehnt es jedoch ab, die Anwendung und Umsetzung der sozialen Menschenrechte durch den zuständigen UN-Ausschuss regelmäßig überprüfen zu lassen.

Zur Umsetzung der sozialen Menschenrechte fragen wir die Parteien im Berliner Abgeordnetenhaus:

  1. Welche Schritte plant Ihre Partei, um das wichtige Zusatzprotokoll und die Überprüfung durch den UN-Ausschuss auf Landesebene noch zur Ratifizierung zu bringen?
  2. Welche konkreten Maßnahmen will ihre Partei in Angriff nehmen, um der immer stärker werdenden Prekarisierung und der Inflation, die vor allem einkommensschwache Menschen trifft, entgegen zu wirken?

B. Soziales Menschenrecht auf Wohnen

Nahezu alle Parteien werben derzeit damit, mehr Wohnraum schaffen zu wollen. Welche Art von Wohnraum bevorzugt gefördert werden soll, ist von Partei zu Partei sehr unterschiedlich. Mal sollen bevorzugt neue Eigentumswohnungen, mal Sozialwohnungen entstehen.

Vor allem in den Großstädten und Ballungsgebieten Deutschlands fehlt es insgesamt an Wohnraum, besonders an bezahlbarem und angemessenem Wohnraum. Der Bedarf an Sozialwohnungen steigt stetig, während die Zahl der verfügbaren Wohneinheiten sinkt. Die bisher ergriffenen Maßnahmen zur Lösung des Problems haben sich als unzureichend oder sogar kontraproduktiv erwiesen, insbesondere die sogenannten Mietpreisbremse hat nach allen vorliegenden Erkenntnissen eher das Gegenteil als eine Entspannung des Marktes bewirkt. Zur Schaffung von sozialem Wohnraum wurden durch das Bundesbauministerium jährlich mehr Fördermittel zur Verfügung gestellt, trotzdem wurden in einigen Ländern über Jahre hinweg keine Sozialwohnungen gebaut. Das Urteil des Bundesverfassungsgerichtes gegen den Berliner Mietendeckel zeigt die engen Grenzen der Landespolitik und verweist auf die Dringlichkeit einer bundesweiten Gesetzgebung. Es ist offenkundig, dass es rasch eines strategischen Umdenkens bedarf.

Die vorhandene desolate Mietsituation trägt zu einer weiteren sozialen Spaltung der Bevölkerung bei. Durch Gentrifizierungsprozesse werden nicht nur ökonomisch schwächere Personen aus Städten und Ballungsgebieten verdrängt. Der Weg von einem Leben in Armut mit Dach über dem Kopf in ein Leben in die Wohnungslosigkeit verläuft oft fließend.

Der UN–Sozialpakt von 1966, welcher in Deutschland völkerrechtlich verbindlich ist, garantiert angemessenen Wohnraum zu erschwinglichen Preisen für alle.

Zum sozialen Menschenrecht auf Wohnen fragen wir die Parteien im Berliner Abgeordnetenhaus:

  1. Welche Schritte unternehmen Sie, um das soziale Menschenrecht auf angemessenen Wohnraum für alle zu bezahlbaren Preisen als subjektives und gerichtlich durchsetzbares Recht sowie auch als Grundrecht im Grundgesetz zu verankern?
  2. Sehen Sie in der Enteignung und Vergesellschaftung großer Immobilen-Unternehmen, wie es Berliner Mieter:inneninitiativen mit einem Volksbegehren durchsetzen wollen, eine legitime und wirksame Möglichkeit, die Profitexplosion am Wohnungsmarkt zu begrenzen?
  3. Wie wollen Sie ganz konkret mit dem Ergebnis zum Volksentscheid „Deutsche Wohnen & Co enteignen“ umgehen und welche Schritte planen Sie zur Umsetzung?
  4. Im Zuge der Covid-Pandemie gehen Studien davon aus, dass die Zahl der Wohnungslosen in Berlin gestiegen ist. Welche Schritte plant Ihre Partei zu unternehmen, um dieser steigenden Anzahl entgegenzuwirken?

C. Soziales Menschenrecht auf Gesundheit

  • Das Recht auf Gesundheit beinhaltet die breite Verfügbarkeit sowie den diskriminierungsfreien, bezahlbaren Zugang zu angemessen ausgestatteten Gesundheitseinrichtungen, –Dienstleistungen und –Informationen.
  • In Deutschland wird in vielerlei Hinsicht gegen die sich daraus ergebenden, konkreten Schutzpflichten verstoßen. Insbesondere im Pflegebereich herrschen verheerende Mängel. Auch wird Geflüchteten in Deutschland ihr Recht auf eine umfassende ärztliche Versorgung verwehrt. Sie erhalten lediglich reduzierte Leistungen, die sich auf das – aus Sicht der Behörden – aller Nötigste beschränken und damit insbesondere eine psychosoziale Behandlung ausschließen.

C. Struktureller und institutioneller Rassismus

Rassismus und Diskriminierung in Deutschland sind brandaktuelle Themen, wenngleich diese keineswegs neu sind. Die skandalösen Enthüllungen im Zusammenhang mit den rassistischen Anschlägen von Halle oder auf Politiker*innen unter anderem in Berlin Neukölln, aufgedeckte Neonazigruppen in der Bundeswehr und bei verschiedenen Sicherheitskräften zeigen, dass Rassismus, Rechtsextremismus und Diskriminierung ein ernsthaftes gesellschaftliches Problem bleiben. Nicht zuletzt verdeutlicht der rasante Anstieg rassistischer Hassreden und weiterer Aktivitäten neonazistischer Parteien und Organisationen in den sozialen Medien und auf der politischen Ebene die Allgegenwärtigkeit von Rassismus.

In der öffentlichen Debatte über solche rassistischen Aktivitäten wird zunehmend betont, dass Rassismus kein Gedankengut voraussetzt, das auf biologistischen Theorien von Abstammung oder Vererbung basiert. Vielmehr setzt sich hierzulande langsam eine wichtige Erkenntnis durch: rassistische Argumentationsmuster gründen zunehmend auf Zuschreibungen aufgrund unterschiedlicher „Kulturen, Nationen, Ethnien oder Religionszugehörigkeit“. Kennzeichnend ist die Konstruktion von Gruppen, nach der in „Wir“ und „die anderen“ unterteilt wird – also die Konstruktion bestimmter Gruppen als Fremde mit minderen Rechten. Diese Erkenntnis ist jedoch nur ein erster, wichtiger Schritt.

Die Kritik an diesen offenkundig tiefsitzenden Problemen wird von den politisch Verantwortlichen meist darauf reduziert, dass es „leider“ immer noch einige »schwarze Schafe« gebe, die man entschlossen bekämpfen müsse. Auf der politischen Ebene und in den Medien ist inzwischen vereinzelt auch vom sogenannten strukturellen Rassismus die Rede. Dabei wird die systematische Benachteiligung der Minderheiten auf allen gesellschaftlichen Ebenen aber immer noch weitgehend ausgeblendet oder verharmlost. So werden in staatlichen Institutionen, angefangen bei der Polizei und dem Verfassungsschutz, den Geheimdiensten und dem ausufernden Bereich von Sicherheitsinstitutionen seit mehr als zwei Jahrzehnten gravierende Diskriminierungen und Vorurteile gegenüber Minderheiten beobachtet. Negative Erfahrungen werden auch aus den Bildungseinrichtungen von Kindergarten bis zur Universität, sowie den führenden Medien, allen voran dem öffentlich-rechtlichen Rundfunk und Fernsehen – ganz zu schweigen von den zuständigen Institutionen in den Bereichen Integration, Asyl und Aufenthalt berichtet.

Zum strukturellen und institutionellen Rassismus fragen wir die Parteien im Berliner Abgeordnetenhaus:

  1. Was unternehmen Sie, um den strukturellen und institutionellen Rassismus in den Behörden, insbesondere Polizei und Ausländerbehörden, aber auch in Bildungseinrichtungen und der Justiz wissenschaftlich untersuchen zu lassen und wirksam zu bekämpfen?
  2. Wie wollen Sie – unter maßgeblicher Beteiligung der betroffenen Gruppen und ihrer Organisationen – für eine kritische Aufarbeitung und Überwindung der rassistischen Feindbilder wie die gegen Muslim:a, Jüd:innen, Sinti:ze und Rom:nja und BIPoC sorgen?
  3. Wie wollen Sie Art. 2 des schon lange ratifizierten UN-Abkommens zur Beseitigung rassistischer Diskriminierung (ICERD) erfüllen, wonach die Rechte aus dem UN-Sozialpakt in allen gesellschaftlichen Bereichen (Arbeit, Wohnung, Bildung, Gesundheitsversorgung u.a.) sicher zu stellen sind?
  4. Wie wollen Sie die Rechtsprechung des UN-Ausschusses zur Beseitigung der Rassendiskriminierung und des Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte umsetzen, dass rassistische Beleidigungen und Volksverhetzung nicht durch die Meinungs- oder Pressefreiheit gerechtfertigt sein können?
  5. Wie wollen Sie für die Einrichtung unabhängiger Beschwerdestellen für von Rassismus Betroffene in allen gesellschaftlichen Bereichen sorgen?